Wieskapelle
Kapellen sind Zeugnisse tiefer Volksfrömmigkeit und Orte des Innehaltens. Sie spielten im Leben und Wirken vor allem der ländlichen Bevölkerung stets eine bedeutende Rolle. Dies trifft natürlich auch auf die Wieskapelle „Zum gegeißelten Heiland“ in Niedermurach zu.
Als von 1745 bis 1754 die weltberühmte Wieskirche bei Steingaden errichtet wurde, diente die Figur des leidenden Heilands an der Geißelsäule als Vorbild für viele Kirchen und Kapellen. Diesem frommen Trend der damaligen Zeit folgend entstand bereits vor 1753 die Wieskapelle in Niedermurach. Am südöstlichen Ortsrand erbaut markierte sie einst den Übergang vom Dorf zur Flur. Heute von Bauwerken umgeben, hat sie diese Funktion weitgehend verloren. Nach dem Bau der Kreisstraße Richtung Bahnhof nutzte man die Gelegenheit, die Wieskapelle in die Parkanlage des Friedhofs zu integrieren.
Die Kapelle ist ein dreiseitig geschlossener Satteldachbau mit Rundbogenfenstern und Putzbänderung. Im Dachreiter mit Pyramidenhelm befindet sich eine Glocke, die zu Gottesdiensten und Andachten ruft sowie bei Beerdigungen die Verstorbenen samt Trauerzug vom Leichenhaus zum Grab mit ihrem Klang begleitet. Wer den Kapellenbau veranlasste ist bislang nicht bekannt. Es ist jedoch anzunehmen, dass die Freiherren von Murach daran beteiligt waren, denn oben am Altar befindet sich deren reich verziertes Wappen.
Ausgestattet ist das Innere mit einem sehenswerten und für Kapellen dieser Größe vergleichsweise prunkvollen Rokokoaltar. Den Mittelpunkt bildet unter einem Baldachin in einem Schrein die Darstellung des leidenden Heilands an der Geiselsäule. Zu beiden Seiten je ein kleiner Engel und je eine Votivkerze: Die linke aus dem Jahre 1783 gibt Freiherr Karl von Murach als Stifter an, die rechte die Müllerstochter Katharina Schönin mit der Jahreszahl 1796. Über dem Baldachin ein Relief mit der Krönung Mariens im Himmel durch Gott Vater und Gott Sohn.
Vor einer runden Öffnung im obersten Teil des Altars befindet sich das „Auge der Vorsehung“, auch „Allsehendes Auge“ oder „Auge Gottes“ genannt. Es ist ein Symbol, welches die Menschen an die ewige Wachsamkeit Gottes erinnern soll. Dargestellt wird es als ein von einem Strahlenkranz umgebenes Auge, von einem Dreieck umschlossen, das auf die Trinität, die Dreifaltigkeit Gottes verweist. Der lichtdurchflutete Strahlenkranz bringt dieses Symbol noch stärker zur Geltung. Der marmorierte Rokokoaltar mit seinen vielfältigen Engelsfiguren und reichhaltigen Schmuckelementen ist in seiner gesamten Erscheinung von beeindruckender Schönheit.
Im 17. Jahrhundert setzten im Bistum Regensburg auch Wallfahrten zum Gnadenbild des gegeißelten Heilands ein. Dieser Trend ging natürlich nicht spurlos am einzigen Sakralbau dieser Art im Murachtal vorüber. Im Matrikelbuch der Diözese Regensburg für die Pfarrei Niedermurach findet sich folgender Vermerk: „Viele Wallfahrer besuchten seit 1753 die Wieskapelle Zum gegeißelten Heiland“. Zahlreiche Votivgaben in Form von Hinterglasmalereien, die früher die Innenwände der Kapelle zierten, sind Zeugnisse der Wallfahrtsepoche. Die wertvollen Kunstwerke aus der Werkstatt des Winklarner Malers Ruf wurden nach wiederholten Einbrüchen in Kirchen und Kapellen seinerzeit aus der Wieskapelle entfernt und befinden sich in der Obhut des Kirchenpflegers.
Auch die Marienverehrung spielt in dem Kirchlein eine besondere Rolle. Neben dem genannten Relief mit der Krönung Mariens befindet sich die Schwarze Madonna mit Strahlenkranz unter dem Heiland-Schrein, eine größere Muttergottesfigur auf einem Postament und eine kleinere in einer Wandnische sowie die Schmerzhafte Mutter Gottes am großen Kreuz an der Wand.
Gestühl mit rund 50 Sitzplätzen und sogar eine kleine Empore für etwa 15 Personen gehören zur Ausstattung der Kapelle. Genutzt wird das Kirchlein vor allem für Oktoberrosenkranz- und Maiandachten, aber auch für Gottesdienste im kleinen Kreis.
Nichts hält ewig, auch nicht, wenn es sich um eine Kirche handelt. Um die Wieskapelle in einem guten baulichen Zustand zu halten, mussten immer wieder Renovierungen durchgeführt werden. In neuerer Zeit verfügte Pfarrer Josef Renghart, dass 1958 das Dach einschließlich Dachstuhl komplett erneuert wurde. Unter Pfarrer Hans Kraus erhielt die Wieskapelle einen neuen Außen- und Innenanstrich sowie neues Gestühl und aus Sicherheitsgründen eine robuste Metallgittertüre zusätzlich am Eingang.
Von 2009 bis 2012 lief unter Pfarrer Leo Heinrich eine umfangreiche Sanierung der Kapelle sowohl außen wie innen, die aber weitestgehend ehrenamtlich von Pfarrangehörigen ausgeführt wurde. Es erfolgte die gesamte Dachsanierung, die Auskofferung und Trockenlegung des Mauerwerks, die Neuverputzung auf einer Höhe von 1,60 Meter und ein Neuanstrich – dies alles sowohl außen als auch innen –, die Einbringung von feuchtigkeitsdurchlässigem Einkornbeton als Untergrund für das neue Pflaster, der Einbau einer Sitzheizung für die Bänke, eines Elektroantriebs für die Glocke, einer neuen Beleuchtung, die Erneuerung der Treppe zur Empore, die Neugestaltung des Eingangsbereichs u. a.
Mit unentgeltlichen Handwerkerleistungen waren Michael Schlagenhaufer sen., Johann Kirchhammer, Georg Lingl, Manfred Schlagenhaufer, Peter Kirchhammer, Martin Fröhler, Alexander Herdegen, Willibald Reiter, Georg Schneeberger, Johann Elsner, Josef Fuchs, Markus Lingl und Karl Größl beteiligt. Mehrfache finanzielle Unterstützung gab’s von den Bewohnern der Tradl-Siedlung aus dem Erlös der Tradl-Feste und eine großzügige anonyme Spende ermöglichte die umfassende Renovierung des Altars.
Aufgrund dieser beispielhaften Gemeinschaftsleistung präsentiert sich die Wieskapelle „Zum gegeißelten Heiland“ heute in einem bemerkenswert guten Zustand als würdige und sehenswerte Gebetsstätte. Damit diese auch stets einen gepflegten Eindruck hinterlässt, sorgen Michael Schlagenhaufer sen. und Georg Lingl regelmäßig innen und außen für Sauberkeit. Vom Frühjahr bis in den Herbst hinein wird zudem von Michael Schlagenhaufer sonntags die Eingangstüre geöffnet, die den Blick in das Innere der Kapelle frei gibt. Die Metallgittertüre bleibt allerdings sicherheitsbedingt geschlossen.
Niedermurach, im September 2018
Josef Böhm
Bilder: Josef Böhm